Martin Kittner, der ehemalige Spitzenringer und Olympiakandidat, drei Jahre nach seinem Sportunfall Wenn billige Trost-Reflexe à la « Kopf hoch » oder « Wird schon wieder » nicht funktionieren, dann steht man als Anteilnehmender manchmal ganz schön hilflos da. Denn manches wird eben nicht «schon wieder» und schon gleich gar nicht gleich. Siehe Martin Kittner.
Am 30.09. jährte sich sein Sportunfall zum dritten Mal, der im Frühherbst 2006 die Stadt Lichtenfels und mindestens Ringer-Deutschland in Atem hielt. Seither ist nichts mehr so wie es früher war. Nicht für den heute 31-Jährigen, nicht für seine Angehörigen, nicht für viele in seinem Verein AC Lichtenfels.
Martin Kittner ist seit jenem Samstagabend und seinem fatalen Sturz während eines Kampfes in der 2. Ringer-Bundesliga vom sechsten Halswirbel an querschnittgelähmt. Seither kann er die Arme nur eingeschränkt, die Hände gar nicht willentlich steuern: „Das Greifen ist halt ein Problem“, meint er, „und damit auch das selbständige Essen und Trinken.“ Aber Jammern? Nein, das ist seine Sache nicht. Er berichtet Positives, registriert Fortschritte, kämpft – der Vergleich ist schon oft strapaziert worden – wie früher als Ringer: „Bei mir war am Anfang motorisch außer ein bisschen Schulterzucken ja praktisch alles weg. Heute geht mit dem rechten Arm schon einiges, mit dem linken zwar etwas weniger. Aber auch den krieg ich noch hin.“ So kann er seinen Rollstuhl zumindest daheim selbständig bewegen, an Türschwellen oder bergauf jedoch gibt’s Probleme. Noch.
Alles freilich eine Sache des Trainings. Der Ringer Martin Kittner hat seinerzeit – mit Verlaub – trainiert „wie ein Ochse“, sonst wäre Olympia 2008 in Peking nicht ein realistisches Ziel für ihn gewesen. Der Rollstuhlfahrer Martin Kittner ist da nicht viel anders. Training ist an diesem Nachmittag das Wort, das ihm am häufigsten über die Lippen kommt. Und dann sagt er Sätze wie: „Es gibt einem Auftrieb, wenn man merkt, dass im Training etwas vorwärts geht, dass die Beweglichkeit einzelner Muskeln zunimmt, auch wenn es oft nur Kleinigkeiten sind.“ Oder wie: „Es ist alles Training für mich; sogar, wenn ich mit einer Tipphilfe am Computer sitze und im Internet surfe.“
Auf der anderen Seite könnten viele Mosaiksteinchen des Genesungsprozesses für seinen Geschmack einfach schneller gehen: „Man nimmt sich zum Beispiel etwas vor für 2009 und erschrickt, wenn man merkt, es sind schon wieder drei Viertel des Jahres vorbei.“ Martin Kittner hat gelernt, in anderen zeitlichen Dimensionen zu denken als viele Mitmenschen.
Und was ihm neben seinem zurückhaltend-offen-freundlichen Wesen vielleicht am meisten Größe verleiht, ist sein punktuell staubtrockener Humor. Da wird am Kaffeetisch von ACL-Mannschaftsführer Jürgen Lieb eh |
schon viel gelacht, als einige ACler mit ihm zusammensitzen und neben Alltäglichem auch Ernsthaftes wie Entwicklungen in der Querschnittsforschung diskutieren, denen zufolge Ratten nach speziellen Behandlungen angeblich schon in verschiedene Richtungen laufen konnten. Und Martin? Lässt fast aus dem Nichts den Spruch „Hast du schon mal eine Ratte seitwärts laufen sehen?“ los, und kaum jemand kann mehr an sich halten.
Es gibt inzwischen einige, die für Martin Kittner eine große Stütze sind. Seine Freundin Betti, 25, Medizinstudentin, die in den Semesterferien den etatmäßigen Pfleger, früheren Jugendtrainer und heutigen Freund Martins Andreas Schelzig auch mal ablöst und mit ihrem Martin demnächst nach Hamburg zum Musical „...“ (bitte Titel eintragen!) fahren wird. Und nicht zuletzt seine Ringerfreunde vom ACL wie Jürgen Lieb, Roland Hopf, Markus Mohr oder die Familie Goller. Einmal die Woche ist Besuchstag, mal in Goldkronach, mal in Lichtenfels.
Alle haben sie begreifen müssen, dass der Ernst des Sports und der Ernst des Lebens zwei völlig verschiedene Dinge sind. Für Martin Kittner gilt das natürlich am allermeisten. Und so fühlt man sich unweigerlich berührt, wenn er mitunter gleichsam über den Dingen zu stehen vermag und Aussagen von sich gibt wie: „Ich muss mich nach nunmehr drei Jahren nicht beklagen. – Verglichen mit anderen Querschnittpatienten, die auch große finanzielle Sorgen haben, bin ich noch privilegiert. - Die große Anteilnahme und Spendenbereitschaft hat mich wirklich bewegt. – Ich hab noch viel vor in den nächsten Jahren, denn beim Querschnitt ist vieles oft noch nach Jahren möglich.“
Auch Jürgen Lieb sagt einen Satz, der bleibt: „Der Martin hat es immer jedem leicht gemacht, der ihm begegnet ist“ – selbst hartgesottenen Ringerkollegen, die nach ihren ersten Besuchen im Krankenhaus vor der Zimmertür heulten wie Schlosshunde.
Überhaupt ist Martin Kittner ein Mensch des kleinen, vertrauten Kreises. Die große Öffentlichkeit des Spitzensportlers – er brauchte sie als Ringer nie, er braucht sie heute nicht. Entsprechend zögerlich seine Einschätzung, ob ein Besuch eines ACL-Heimkampfes für ihn in Betracht käme: „Ich werde immer wieder gefragt und will es nicht ausschließen. Aber solche Massenauftritte können mich mental auch ganz leicht runterziehen.“
So bleiben letztlich keine Fragen offen an diesem Tag. Nicht die nach seiner Stammzellen-Operation vor gute einem Jahr in China („Ich bin froh, dass ich es gemacht habe, und wusste vorher, dass sie mich nicht heilen würde. Aber gewisse Verbesserungen im linken Arm gibt es schon.“). Nicht die nach dem behindertengerechten Umbau seines Elternhauses („Es hat nicht alles geklappt dabei, aber ich bin auch dankbar und fühle mich wohl heute.“). Und schon gar nicht die nach der Zukunft: „Im nächsten Frühjahr das Fahren mit dem Handbike vorantreiben – und mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Das sind meine größten Ziele.“
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